Alfred Polgar: Theorie des Café Central"
Das Café Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung,
und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen. Was sieht man schon?
Doch davon später. So viel steht erfahrungsgemäß fest, daß keiner im Central ist, in dem nicht ein
Stück Central wäre, das heißt, in dessen Ich-Spektrum nicht die Centralfarbe vorkäme, eine
Mischung aus Aschgrau und Ultra-Stagelgrün. Ob der Ort sich dem Menschen, der Mensch dem
Ort angeglichen hat, das ist strittig. Ich vermute Wechselwirkung. Nicht du bist der Ort, der Ort,
der ist in dir", sagt der Cherubinische Wandersmann.
Wenn man alle Anekdoten, die von diesem Kaffeehaus erzählt werden, zerstampft, in die Retorte
gibt und vergast, wird sich ein trübes, irisierendes, leicht nach Ammoniak riechendes Gas
entwickeln; die sogenannte Luft des Café Central. Sie bestimmt das geistige Klima dieses Raumes,
ein ganz besonderes Klima, in dem das Lebensunfähige, und nur dieses, bei voller Wahrung seiner
Lebensunfähigkeit gedeiht. Hier entwickelt Ohnmacht die ihr eigentümlichsten Kräfte, Früchte der
Unfruchtbarkeit reifen, und jeder Nichtbesitz verzinst sich. Ganz erfassen wird das ja nur ein
richtiger Centralist, der, in sein Kaffeehaus gesperrt, die Empfindung hat, ins rauhe Leben
hinausgestoßen zu sein, preisgegeben den wilden Zufällen, Anomalien und Grausamkeiten der
Fremde.
Das Café Central liegt unterm Wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine
Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach
Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen. Ihre Innenwelt bedarf einer
Schicht Außenwelt als abgrenzenden Materials, ihre schwankenden Einzelstimmen können der
Stütze des Chors nicht entbehren. Es sind unklare Naturen, ziemlich verloren ohne die Sicherheiten,
die das Gefühl gibt, Teilchen eines Ganzen (dessen Ton und Farben sie mitbestimmen) zu sein. Der
Centralist ist ein Mensch, dem Familie, Beruf, Partei solches Gefühl nicht geben: Hilfreich springt da
das Caféhaus als Ersatztotalität ein, lädt zum Untertauchen und Zerfließen. Verständlich also, daß
vor allem Frauen, die ja niemals allein sein können, eine Schwäche für das Café Central haben. Es
ist ein Ort für Leute, die um ihre Bestimmung, zu verlassen und verlassen zu werden, wissen, aber
nicht die Nervenmittel haben, dieser Bestimmung nachzuleben. Es ist ein rechtes Asyl für
Menschen, die die Zeit totschlagen müssen, um von ihr nicht totgeschlagen zu werden. Es ist der
traute Herd derer, denen der traute Herd ein Greuel ist, die Zuflucht der Eheleute und Liebespaare
vor den Schrecken des ungestörten Beisammenseins, eine Rettungsstation für Zerrissene, die dort,
ihr Lebtag auf der Suche nach sich und ihr Lebtag auf der Flucht vor sich, ihr fliehendes Ich-Teil
hinter Zeitungspapier, öden Gesprächen und Spielkarten verstecken und das Verfolger-Ich in die
Rolle des Kiebitz drängen, der das Maul zu halten hat. Das Café Central stellt also eine Art
Organisation der Desorganisierten dar.
In diesem gesegneten Raum wird jedem halbwegs unbestimmten Menschen Persönlichkeit
kreditiert - er kann, bleibt er nur im Weichbilde des Caféhauses, mit diesem Kredit seine sämtlichen
moralischen Spesen bestreiten - und jedem, der Verachtung bezeugt vor dem Gelde der anderen,
die Unbürgerkrone aufgesetzt.
Der Centralist lebt parasitär auf der Anekdote, die von ihm umläuft. Sie ist das Hauptstück, das
Wesentliche. Alles übrige, die Tatsachen seiner Existenz, sind Kleingedrucktes, Hinzugefügtes,
Hinzuerfundenes, das auch wegbleiben kann.
Die Gäste des Café Central kennen, lieben und geringschätzen einander. Auch die, die keinerlei
Beziehung verknüpft, empfinden diese Nichtbeziehung als Beziehung, selbst gegenseitiger
Widerwille hat im Café Central Bindekraft, anerkennt und übt eine Art freimaurerischer Solidarität.
Jeder weiß von jedem. Das Café Central ist ein Provinznest im Schoß der Großstadt, dampfend
von Klatsch, Neugier und Médisence. So wie die Stammgäste in diesem Caféhaus, mögen, denke
ich, die Fische im Aquarium leben, immer im engsten Kreise umeinander, immer ohne Ziel
geschäftig, die schiefe Lichtbrechung ihres Mediums zu mancherlei Kurzweil nützend, immer voll
Erwartung, aber auch voll Sorge, daß einmal was Neues in den glänzenden Bottich fallen könnte,
auf ihrem künstlichen Miniaturmeeresgrund mit ernster Miene Meer" spielend, und ganz verloren,
wenn, Gott soll hüten, das Aquarium in ein Bankhaus verwandelt würde.
Irgendwelche Scheu oder Heimlichkeit haben die Centralfische, die so viele Stunden ihres Lebens
die gleichen paar Kubikmeter Atemraum teilen, natürlich nicht mehr: Der richtige Centralist führt
das Privatleben der andern und treibt mit dem eigenen keine Hehlerei. Das schafft, unterstützt von
der ortsüblichen Neigung zum Selbstspott und zur gelassen Preisgabe der eigenen Schwächen, eine
Sphäre verschwebender Gemütlichkeit, in der jederlei Prüderie welkt und abstirbt. Es gibt
Centralgäste, die psychisch nackt gehen, ohne daß ihre kindlich-unschuldsvolle Blöße eine
Mißdeutung als schamlos zu befürchten hätte. Diesem paradiesischen Einschlag in den Charakter
seiner Stammgäste hat vor einigen Jahren der Besitzer des Cafés durch Aufstellen einer Palme
Rechnung zu tragen versucht. Die Tochter aus dem Morgenland hat aber das Klima der Örtlichkeit,
trotz dessen ziemlich östlichem Charakter, nicht vertragen. Sie wurde klein gehackt, und ihre
zerteilte Substanz fand in der Küche - ob als Brennstoff oder als Mokkabohnen, darüber sind sich
die Forscher nicht einig - Verwendung.
Teilhaftig der eigentlichsten Reize dieses wunderlichen Caféhauses wird allein der, der dort nichts
will als dort sein. Zwecklosigkeit heiligt den Aufenthalt. Der Gast mag vielleicht das Lokal gar nicht
und mag die Menschen nicht, die es lärmend besiedeln, aber sein Nervensystem fordert
gebieterisch das tägliche Quantum Centralin. Mit Gewöhnung allein ist das kaum zu erklären, auch
nicht damit, daß es den Centralmenschen, wie den Mörder an den Ort der Tat, immer dorthin
ziehe, wo er schon so viel Zeit totgeschlagen, ganze Jahre ausgerottet hat. Also was denn ist es?
Das Fluidum! Ich kann nur sagen: das Fluidum! Es gibt Schreiber, die nirgendwo anders wie im
Café Central ihr Schreibpensum zu erledigen imstande sind, nur dort, nur an den Tischen des
Müßigganges, ist ihnen die Tafel der Arbeit gedeckt, nur dort, von Faulenzlüften umweht, wird ihrer
Trägheit Befruchtung. Es gibt Schaffende, denen nur im Central nichts einfällt, überall anderswo
weit weniger. Es gibt Dichter und andere Industrielle, denen nur im Café Central der verdienende
Gedanke kommt, Hartleibige, denen nur dort die Tür der Erlösung sich öffnet, erotisch seit langem
Appetitlose, die nur dort Hunger verspüren, Stumme, die nur im Central ihre oder eines andern
Sprache finden, Geizige, deren Gelddrüse nur dort secerniert.
Dieses rätselvolle Caféhaus beschwichtigt in den friedlosen Menschen, die es besuchen, etwas, das
ich: das kosmische Unbehagen nennen möchte. An dieser Stätte der lockeren Beziehungen lockert
sich auch die Beziehung zu Gott und den Sternen, die Kreatur entschlüpft ihrem Zwangsverhältnis
zum All in ein pflichtloses sinnliches Gelegenheitsverhältnis zum Nichts, die Drohungen der Ewigkeit
dringen nicht durch die Wände des Café Central, und zwischen diesen geniessest du der holden
Wurschtigkeit des Augenblicks.
Über das Liebesleben im Café Central, über den Ausgleich der sozialen Unterschiede in ihm, über
die literarischen und politischen Strömungen, von denen seine ausgefransten Küsten bespült
werden, über die in der Centralhölle Verschütteten die dort sehnsüchtig ihrer Ausgrabung harren,
hoffend, daß sie nie stattfinden werde, über das Maskenspiel von Witz und Dummheit, das in jenen
Räumen jede Nacht zur Fastnacht wandelt, über dies und anderes wäre noch viel zu sagen. Aber
wer sich für das Café Central interessiert, der weiß das alles ohnehin, und wer sich nicht für das
Café Central interessiert, an dessen Interesse haben wir keines.
Es ist ein Caféhaus, nehmt alles nur in allem! Ihr werdet nimmer solcher Örtlichkeit begegnen. Von
ihr gilt, was Knut Hamsun im ersten Satz seines unsterblichen Hunger" von der Stadt Christiania
sagt: Keiner verläßt sie, den sie nicht gezeichnet hätte.